Achtung, Karies!

Keine Utopie: Algorithmen entdecken schlechte Zähne

von Birgit Kremer

Die Situation kennt wohl jeder: Mit offenem Mund und leichtem Herzklopfen liegt man auf dem Zahnarztstuhl und lauscht den kryptischen Zahlen-Buchstaben-Kombinationen: „Drei sieben c okklusal, drei acht fehlt …“. Für diesen Blick auf den Zustand des Gebisses nehmen sich Zahnärzt:innen viel Zeit, damit sie nichts übersehen und die richtige Diagnose ableiten. Wie praktisch wäre es da, wenn Künstliche Intelligenz ihnen bei der Befundung assistieren könnte.   

Genau diese Idee brachte ein Team von Zahnmediziner:innen (LMU München) mit den KI-Spezialisten des Softwaretechnik-Instituts paluno (UDE) zusammen. „Intelligente Systeme leisten bereits bei der Analyse von Röntgenbildern gute Dienste. Wir wollten herausfinden, ob das auch mit Fotos von Zähnen funktioniert“, sagt Informatiker Dr. Marc Hesenius. Fotografien lassen sich günstig anfertigen und kommen ohne Strahlung aus; aber kann eine Software darauf Karies entdecken?

Gesund, mit Loch, kariös ohne Loch

Zur Klassifikation von Karies gibt es in der Zahnmedizin ein anerkanntes Schema. Es unterscheidet zwischen einer gesunden Zahnoberfläche, einem Zahn mit Kavität (mit Loch) sowie einer kariösen Oberfläche ohne Kavität. Das heißt: Ein automatisches System müsste selbstständig feststellen, in welche dieser drei Kategorien ein abgebildeter Zahn fällt.

„Würde man die Software traditionell programmieren, also ohne KI, würde man versuchen, hierfür Regeln zu formulieren, die ein Algorithmus abarbeiten kann. Doch dieser Ansatz stößt bei der Bilderkennung schnell an seine Grenzen“, erklärt Hesenius‘ Teamkollege Ole Meyer. „Selbst standardisierte Fotos von Zähnen haben zu viele unterschiedliche Merkmale und Besonderheiten. Diese müssten bei der Programmierung mitgedacht werden.“ Einen Ausweg bietet das Maschinelle Lernen – die derzeit erfolgreichste Form der Künstlichen Intelligenz. Die Idee dabei: Ein Computerprogramm erarbeitet sich die Regeln für die richtige Kategorisierung selbst.

Ohne Training keine Intelligenz

Dafür braucht man im Grunde zwei Hauptzutaten: 1. einen Datensatz mit vielen Beispielen (hier: viele Fotografien von Zähnen) und 2. Informationen über diese Daten (hier: die richtige Karies-Kategorie). Aus diesen Zutaten können Machine-Learning-Algorithmen ein statistisches Muster für die richtigen Kategorisierungen ableiten. Dazu gleichen sie in vielen Einzelschritten immer wieder die Daten mit den jeweiligen Informationen ab: Die Algorithmen weisen den Daten Informationen zu, prüfen, ob die Zuweisung richtig war, und lernen aus ihren Fehlern. So optimieren sie sich fortlaufend. Am Ende dieses Trainingsprozesses kann ein KI-Programm mit hoher Wahrscheinlichkeit bestimmen, welche Information zu einem Datensatz gehört. In unserem Fall heißt das: Es erkennt, welche Karies-Kategorie auf einem Zahn-Bild zu sehen ist.

Wie sehen Maschinen?

Für ihre Software wählten Hesenius und Meyer eine Sorte von Machine-Learning-Algorithmen, die sich für die Bilderkennung besonders gut eignet: die Convolutional Neural Networks (CNN). Ähnlich wie die menschliche Sehrinde verarbeiten diese künstlichen neuronalen Netze Bildinformationen in verschiedenen Schichten und kombinieren die Ergebnisse. Die mathematische Operation dahinter nennt sich Faltung; daher der Name CNN, der zu Deutsch etwa faltendes

neuronales Netzwerk bedeutet. Mit jeder zusätzlichen Schicht des CNN lassen sich komplexere Strukturen auf den Bildern identifizieren.

Mit knapp 2.000 Fotos von einzelnen Zähnen brachten die Forschungsteams dem neuronalen Netz bei, Karies zu erkennen (der Karies-Zustand auf den Bildern war zuvor professionell bewertet worden.) Anhand von weiteren 500 Fotos überprüften sie anschließend, wie gut die Software ihre Aufgabe beherrscht. „Das Ergebnis ist beeindruckend“, so Ole Meyer. „Nach dem vollständigen Training konnte das CNN eine kariöse Oberfläche in 92,5 Prozent der Fälle korrekt erkennen, bei Löchern waren es 93,3 Prozent.“ Die Teams setzten „ihre“ KI auch bei anderen Diagnosen ein: So konnte sie den Zustand von Zahnversiegelungen zu etwa 90 Prozent korrekt klassifizieren.

KI vs. Zahnärzt:innen?

Wird KI also irgendwann Zahnärzt:innen ersetzen? „Mit Sicherheit nicht“, meint der Zahnmediziner Professor Jan Kühnisch (LMU München). „Aber sie kann eine wertvolle Unterstützung sein, indem sie beispielsweise einen Vorbefund erzeugt und auf bestimmte Stellen hinweist, die genauer untersucht werden sollten. Gerade die Erkennung von Karies im Frühstadium ist oft gar nicht so leicht, vor allem wenn man noch unerfahren ist. Da kann eine gut trainierte KI wahrscheinlich sogar besser sein als der Mensch und somit das Risiko verringern, einen Befund zu übersehen oder falsch zu interpretieren. Auch lästige Dokumentationsarbeiten könnten automatisiert erfolgen, so dass wir Zahnärzt:innen mehr Zeit für die Beratung und Versorgung haben.“

Bevor Künstliche Intelligenz in der Zahnmedizin Standard werde, sei aber noch viel zu tun, betont Dr. Marc Hesenius. „Die Studien wurden quasi unter Reinraumbedingungen durchgeführt. Sie basieren auf standardisierten, qualitativ hochwertigen Fotografien einzelner Zähne, die im Alltag normalerweise nicht zur Verfügung stehen. Zudem konzentrierten sich die Untersuchungen auf einen kleinen Teil von Zahnerkrankungen; für den Praxiseinsatz muss eine KI noch viele andere Befunde kennenlernen.“

Daten sind wichtigster Rohstoff

Und es müssen sehr viel mehr Daten her. Denn eine Künstliche Intelligenz ist nur so gut wie ihre Trainingsdaten. Lernt sie beispielsweise nur mit Daten von zahnärztlich gut versorgten Patienten, kann man sie logischerweise nicht einfach für andere Patientengruppen einsetzen.

Zum Glück nimmt das Thema Gesundheitsdaten-Management gerade mächtig Fahrt auf. So können wir uns vielleicht schon bald entspannt auf dem Behandlungsstuhl zurücklehnen. Unser Gebiss wird fotografiert, und schon wenige Sekunden später präsentiert uns die Zahnärztin oder der Zahnarzt das Ergebnis auf dem Tablet: „Sie sehen, es ist alles in Ordnung. Bis zum nächsten Mal!“


Demos der Software sind über die Projektseite verfügbar: dental-ai.de

Außerdem haben die Teams aus Essen und München ihre Ergebnisse gemeinsam im Journal of Dental Research sowie in Diagnostics veröffentlicht:
udue.de/cariesdetection

Foto: Mercedes Fittipaldi/Adobestock.com

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