Mit männlichem Verstand

Regentin, Äbtissin, Autorin: Schon zwischen Antike und Neuzeit gab es einflussreiche Frauen. Ein Gespräch mit der Historikerin Amalie Fößel

Frau Fößel, Sie forschen zu Frauen und Macht im Mittelalter. Wieso?

Bis ins ausgehende 20. Jahrhundert wurde Wissenschaft von Männern dominiert. Dass Frauen in allen historischen Epochen und Kulturen über Macht verfügen konnten, ist daher lange Zeit kein Thema gewesen. Als ich in den 1990er-Jahren damit begonnen habe, nach der politischen Teilhabe und den Handlungsfeldern und Strategien mittel­alterlicher Königinnen zu fragen, war das in der deutschen Mediävistik weitgehend neu. Heute fühle ich mich in meiner Forschung bestätigt, gleichzeitig gibt es viele noch unbearbeitete Themenfelder, die mich motivieren, sie anzugehen.

Welche Frau aus jenen Zeiten gefällt Ihnen besonders und warum?

Es gab zu allen Zeiten zahlreiche beeindruckende Frauen, natürlich auch im Mittelalter. Hildegard von Bingen und Herrad von Landsberg verfügten über ein enormes theologisches und enzyklopädisches Wissen und schrieben zahlreiche Bücher. Sie stehen stellvertretend für den hohen Bildungsgrad von Frauen in Klöstern, im Adel und im Bürgertum. 

Wie wurden Frauen früher mächtig?

Eine wesentliche Voraussetzung waren neben intellektuellen Fähigkeiten vor allem Status, Herkommen, Herrschaftsrechte und materielle Ressourcen, die sie erbten, erheirateten oder qua Amt erlangten.

Frauen in Klöstern, im Adel und im Bürgertum hatten einen hohen Bildungsgrad.

Ein lokales Beispiel: Die Essener Münsterkirche mit dem einzigartigen Domschatz ist die ehemalige Kirche der adeligen Frauengemeinschaft, die in der Mitte des 9. Jahrhunderts gegründet wurde. Die Macht der Äbtissinnen Mathilde, Sophia und Theophanu, die aus der kaiserlichen Familie der Ottonen stammten, ist bis heute sichtbar. Bis in die Neuzeit ­hinein war die Essener Äbtissin sehr einflussreich: Sie verfügte über enorme Mittel und ausgedehnten Grundbesitz, Markt- und Münzrechte, sie fungierte über lange Zeiträume als Stadtherrin und erlangte schließlich den Status einer Reichsfürstin.

Wieso fielen sie später in traditionelle Rollen zurück?

Macht ist ein relationaler Begriff und situationsbedingt, sie ist also nicht grundsätzlich gegeben, sondern muss stets aufs Neue verhandelt und verfestigt werden. Was wir zudem heute als traditionelles Bild der Frau als Mutter und Hausfrau bezeichnen, resultiert aus den bürgerlichen Gesellschaftsmodellen des 19. Jahrhunderts und der Unterscheidung zwischen männlich-öffentlichen Räumen und weiblich-häuslichen Räumen. Damit wurden Rollen verbunden, die bis heute unsere Vorstellungen prägen. Im Mittelalter und der Frühen Neuzeit kannte man diese Trennung nicht. Das so genannte ‚ganze Haus‘ umfasste ­neben der Kernfamilie alle Mitglieder einer Grundherrschaft oder ­eines handwerklichen Betriebes.

Lange galt: Männer werden geboren, um zu herrschen, und Frauen, um ­beherrscht zu werden. Haben Frauen das restlos widerlegen können?

Unsere Gesellschaften sind in großen Teilen bis heute männlich-hierarchisch dominiert. Die erneut in Deutschland geführte Diskussion um Quoten in Parteien und Aufsichtsräten macht dies offensichtlich. Herrschaft als eine männliche Domäne zu begreifen, ist in den traditionellen vormodernen Gesellschaften weit verbreitet und weithin ­akzeptiert worden.

Selbst Christine de Pizan, die im ausgehenden 14. Jahrhundert als junge Witwe ihre Familie als Schriftstellerin durch Auftragsarbeiten ernähren musste, hat dies nicht in Frage gestellt und dennoch einige Bücher wie den Bestseller „Die Stadt der Frauen“ geschrieben und Vorstellungen von einem Lebensraum entwickelt, in dem Frauen das Regiment führen.

Mann-Sein wurde mit Vernunft, Tatkraft und Stärke verknüpft, Frau-Sein mit Emotionalität, Zartheit und Zerbrechlichkeit.

Konnten Frauen damals nur erfolgreich sein, wenn sie herrschten wie ein Mann?

Die Vorstellung von einer erfolgreich regierenden Frau wurde im Mittelalter erzählerisch tatsächlich damit verknüpft, dass man ihr einen ‚männlichen‘ Verstand attestierte und sie als ‚viriliter‘, als männlich handelnd bezeichnete. Das basierte auf einer gängigen Stereotypik, der zufolge Mann-Sein mit Vernunft, Tatkraft und Stärke, Frau-Sein mit Emotionalität, Zartheit und Zerbrechlichkeit verknüpft wurden.

Handelte jedoch eine Frau mit Durchsetzungskraft und in einer Weise, die das Gemeinwesen beförderte, beurteilten die Zeitgenossen und Geschichtsschreiber deren Engagement positiv, indem sie ihr ‚männlichen‘ Mut und ‚männlichen‘ Verstand zuschrieben. Meist handelt es sich dabei um regierende Frauen, die ‚ihren Mann standen‘, ihren Söhnen die Herrschaft bewahrten und – notfalls auch mit militärischen Mitteln – zu verteidigen wussten. 

Gab es damals schon so etwas wie weibliche ­Netzwerke?

In der Tat können wir in bestimmten Situationen so etwas wie weibliche Netzwerke ausmachen. Sie ergaben sich eher aus der Notwendigkeit bestimmter Ereignisse, dürfen aber nicht – wie heute – als grundlegende karrierefördernde Strategie, sich unter Frauen auszutauschen, verstanden werden. Im ausgehenden 10. Jahrhundert gab es eine solche Konstellation, als im ostfränkischen und westfränkischen Reich gleichzeitig ­Regentinnen in der politischen Verantwortung standen und für ihre minderjährigen Söhne handelten, die bereits als Könige vorgesehen waren. Sie trafen sich zu ‚colloquia femina­rum‘, zu Gipfeltreffen – so würden wir heute sagen –, um anstehende Probleme zu ­besprechen.

Sehr viel wichtiger waren hingegen die familiären Netzwerke, in die die Frauen eingebunden waren. So verhandelten im frühen 14. Jahrhundert zwei Schwestern miteinander: die eine war die römisch-deutsche Kaiserin, die andere die englische Königin. Beide trafen sich im Auftrag ihrer Ehemänner, die wussten, dass ihre Frauen besser als die Unterhändler die politischen Probleme lösen konnten.

Herrscherin, Ehefrau und Mutter – diese Dreifachbelastung hatten auch ­Königinnen im Mittelalter. Wie gelang das? Und welche Rolle hatte der Ehemann?

Sie gehen da von einer sehr modernen Sicht aus, die sich nicht so ohne weiteres ins Mittelalter übertragen lässt. Wahrscheinlich hätte keine mittelalterliche Königin hier eine „Dreifachbelastung“ wahrgenommen. Wir sehen, dass Königinnen auf ihre Aufgabe meist gut vorbereitet wurden und sie die damit einhergehenden Herausforderungen kannten. Oberste Pflicht war es, gesunde Kinder und einen Thronfolger zur Welt zu bringen, und zudem dem König eine Partnerin und Gefährtin in der Ehe und in der Königsherrschaft zu sein.

Das brachte es mit sich, dass sie mit dem König und dem gesamten Hof stetig im Reich umherzog, von einem Ort zum anderen, und nicht selten mehrmals mit dem ganzen Gefolge die Alpen nach Italien überquerte. In jeglicher Hinsicht verlangte das den Frauen viel ab und war auch körperlich extrem anstrengend.

Was viele Herrscherinnen und Fürstinnen des Mittelalters mit uns teilen, das war die Erfahrung kultureller Unterschiede und Andersartigkeit.

Geschichtsschreibung war Männersache. Welche Rolle spielt sie?

Da die Autoren der mittelalterlichen Geschichtsschreibung vor allem gelehrte Kleriker und Mönche waren, beschrieben sie die Geschichte aus ihrer männlichen Sicht. Wir sehen aber auch, dass die wenigen weiblichen Geschichtsschreiber die männlich dominierte gesellschaftliche Ordnung nicht in Frage stellten.

Dennoch haben sie immer wieder Frauen in ihrer politischen und gesellschaft­lichen Stellung in den Blick genommen und in ihren verschiedenen Rollen beschrieben. Das haben beispielsweise die gelehrte Nonne Hrotsvith von Gandersheim im 10. Jahrhundert getan oder Hildegard von Bingen, die im 12. Jahrhundert eine vielgefragte Rat­geberin von Königinnen und Königen, Bischöfen und Äbten, adeligen Frauen und Männern war, sowie die spätmittelalterliche ‚weltliche‘ ­Autorin Christine de Pizan.

Was können Frauen heute noch von den Herrscherinnen des Mittelalters ­lernen?
Das ist eine gute Frage, die an den Ausspruch „Geschichte ist Lehrmeisterin des Lebens“ anknüpft. Historische Kontexte stellen sich ­immer wieder anders dar, sie wiederholen sich nicht. Wir können
aber gegebenenfalls übergeordnete Muster und Handlungsstrategien erkennen.

Was viele Herrscherinnen und Fürstinnen des Mittelalters mit uns teilen, das war die Erfahrung kultureller Unterschiede und Andersartigkeit. Besonders, wenn sie von ihren Familien in andere Sprachräume und Kulturkreise verheiratet wurden. Sie mussten sich an neue Lebensweisen anpassen.

Andererseits konnten sie vielfach ihre Kontakte zu ihren Herkunftsfamilien aufrecht­erhalten. Es gelang ihnen, Gewohntes in der neuen Umgebung zu etablieren, mit Neuem zu verknüpfen und zu etwas Eigenem auszuformen. Solchen Herausforderungen müssen sich heutzutage zahlreiche Menschen stellen und auf ihre eigene Weise bewältigen.

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Amalie Fößel ist seit 2008 an der UDE Professorin für die Geschichte des Mittelalters. Sie hat an der aktuellen Ausstellung Die Säulen der Macht in Mainz mitgewirkt und gerade einen von der VW-Stiftung finanzierten „Band ­Gewalt, Krieg und Geschlecht im Mittelalter“ herausgebracht. Er ist als Open Access hier zu haben: http://peterlang.com/view/title/63885


Foto: privat



Auf einem Email vom Otto-Mathildenkreuz: die Essener Äbtissin Mathilde (um 973–1011) und ihr Bruder, Herzog Otto von Schwaben und Bayern, beide höfisch gekleidet. Foto: Christian Diehl, Dortmund, © Domschatz Essen


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