Wenn die Welt stillsteht
Ob Hochwasserkatastrophen oder Olympia-Siege – manches erleben wir wie in Zeitlupe. Literaturwissenschaftler Professor Rolf Parr erklärt, was es mit dieser „Aura des Moments“ auf sich hat.
Es schien fast schon eine Leichtigkeit gewesen zu sein für Usain Bolt – seine Auftritte und vor allem Siege bei seinen 100-Meter-Läufen bei Olympia oder Weltmeisterschaften: wie er seiner Konkurrenz entschwand und fast unvorstellbare Zeiten lief. Doch was den meisten Menschen im Kopf bleibt, wenn sie den Namen des ehemaligen jamaikanischen Sprint-Stars hören? Wohl seine typische Siegerpose, die seinem explosiven Lauf entgegensteht: Die Arme wie ein Bogenschütze, hielt der Athlet inne, harrte zwei, drei Sekunden versteinert aus. Er inszenierte dabei seinen „eigenen auratischen Moment“, wie Professor Rolf Parr sagt. Von einem solchen Moment, erklärt der Germanist weiter, lässt sich in Anlehnung an den Kultur- und Medienphilosophen Walter Benjamin (1892 bis 1940) sprechen. Es verdeutlicht: Ich bin jetzt hier, in diesem besonderen Moment.
Zu finden ist das laut Parr derzeit in nahezu allen medialen Formaten: Etwa bei einem Baumarkt-Werbespot, in dem der Zeitpunkt inszeniert wird, in dem der Handwerker sein Vorhaben – unter vorheriger großer Anstrengung – fertig gestellt hat. Eine Zeitlupe, das Zoomen auf das verschwitzte, aber fröhliche Gesicht und ein ganz kurzer Stillstand des Bildes – und wir wissen: Hier ist gerade jemand zutiefst glücklich. Vom „Innehalten, das in besonderen Momenten nötig sei“ ist aber auch immer wieder in den Nachrichten die Rede; die Pressefotos des Jahres sind regelmäßig genau solche Bilder, wie „The First Embrace“ von 2021. Es zeigt, wie eine an Covid-19 erkrankte 85-Jährige in São Paulo von einer Krankenschwester umarmt wird.
„Schau mal, ich war dabei!“ –
Selfies verbinden uns mit dem besonderen Augenblick.
Um emotionale Momente zu schaffen, wird im Fernsehen und in der Sportberichterstattung gerne die Zeitlupe eingesetzt. „Nicht unbedingt das, was für den Zuschauenden viel zu schnell passiert, wird noch einmal wiederholt, sondern es sind die besonders stark auf Geschwindigkeit, Action und Handlung hin angelegten Szenen, die unmittelbar und nur in Zeitlupe gezeigt werden.“ Wie ein Crash in der Formel 1. Möglich ist das, weil wir darauf trainiert sind und wissen: Dies ist jetzt ein besonderer Moment. Für Parr ist es deshalb durchaus wahrscheinlich, dass Film und Fernsehen auch dadurch interaktiver werden, dass die Zuschauer:innen selbst einzelne Szenen für sich als „auratisch“ übernehmen und bei passender Gelegenheit nachspielen. Das geschieht im Sport immer wieder mit der Usain-Bolt-Pose.
„Was mir nicht gefällt“, kritisiert Parr, „sind solche Inszenierungen, die in Spielfilmen nur dazu dienen, das zu zeigen, was technisch möglich ist. Die dabei herausgehobenen Momente sind dabei nicht dramaturgisch motiviert. Beispiel: der Bruchteil einer Sekunde, in dem eine Kugel auf einen Körper prallt, zunächst in extremer Zeitlupe und dann auch noch mit einem kurz stehenden Bild. Kommt eine solche Szene in ein und demselben Thriller gleich mehrmals unmotiviert vor, dann nutzt sich das Verfahren sehr schnell ab.“
Ein anderes Beispiel eines auratischen Moments: die Selbstinszenierung in den Sozialen Medien. Hier geht es laut Parr vor allem um das Gefühl, mit einem solch besonderem Augenblick verbunden zu sein. „Dies unter Beweis zu stellen, übernehmen all die ‚Schau-mal-ich-war-dabei-Selfies‘, die massenhaft verschickt und in den sozialen Netzwerken gepostet werden.“ Die Menschen haben den Wunsch, den Moment festzuhalten – wie bei großen Konzerten oder Sportveranstaltungen.
Auch Parr erinnert sich an einen persönlichen auratischen Moment, bei dem sich – ganz im Sinne der Überlegungen von Walter Benjamin – ‚ein sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit‘ ergab, eine ‚einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag‘. „Das war für mich der Moment, als ich das erste Mal in New York vor dem ‚National September 11 Memorial‘ stand und mir klar wurde, dass dieses Kunstwerk auf eine ungemein berührende, ja beklemmende Weise aufgeht: ein Bassin, in das Wasser fließt aus einer Vielzahl kleiner Röhrchen am Rand, auf dem die Namen der an diesem Ort Verstorbenen stehen; ganz leise ohne größere Geräusche sammelt sich das Wasser dann im Bassin und verschwindet noch lautloser in einem quadratischen schwarzen Loch in der Mitte des Beckens. Dieses Memorial ist für mich ein gleichsam auf Dauer gestellter beziehungsweise immer wieder neu aktualisierbarer auratischer Moment.“
Aber nicht nur das Gefühl, dabei gewesen zu sein, ist wichtig; wir formen auch unser Gedächtnis nach Bildern, erinnern uns kollektiv an große Ereignisse: die Anschläge vom 11. September, die Landung auf dem Mond, den Gewinn der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien 2014 oder aktuell die Flutkatastrophe in Deutschland.
Rolf Parr
Der Professor für Literatur- und Medienwissenschaft forscht u.a. zu Kolletivsymbolen in Krisen und im Fußball, zu Stereotypen im Sport, aber auch zur Literatur im Ruhrgebiet, zu Fontane und Raabe. Zurzeit schreibt er an einem Artikel über die Funktionen von Kalendern in Spielfilmen.
Durch schier endlose Wiederholungen in Fernsehen, Zeitungen und anderen Medien werden Bilder vereinheitlicht – etwa das des bereits brennenden Towers des World Trade Centers und des sich nähernden Flugzeugs, das nur Sekunden später den zweiten Turm treffen und zum Einsturz bringen wird. „Die Bilder werden zu Ikonen der Erinnerung, die eine wichtige Sache leisten: Sie entlasten davon, die Komplexität des realen Geschehens mit den vielen damit verbundenen Informationen und Details immer wieder neu bewältigen zu müssen“, macht der Experte klar.
„The First Embrace“. Das Weltpressefoto 2021 hat der Däne Mads Nissen im August letzten Jahres im brasilianischen São Paulo gemacht. Eine Krankenschwester umarmt die an Covid-19 erkrankte 85-jährige Rosa Luzia Lunardi.
Foto: picture alliance/ASSOCIATED PRESS